Texte

von Christian Schuster

Paul Hindemith


* 16. November 1895
† 28. Dezember 1963

Quartett für Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier (1938)


Uraufführung:    New York, Town Hall, 23. April 1939
Victor Polatschek (1889-1948), Klarinette
Richard Burgin (1892-1981), Violine
Jean Bedetti (1883-1973), Violoncello
Jesús María Sanromá (1902-1984), Klavier
Erstausgabe:    Schott, Mainz, 1939

Auf der Rückreise von seiner zweiten USA-Tournee begann Hindemith die Komposition eines neuen Kammermusikwerkes. Wie schon in dem 1929 entstandenen Trio für Bratsche, Heckelphon und Klavier reizte ihn der Zusammenklang Bläser-Streicher-Klavier, der ihm ein weites Feld an klangfarblichen Möglichkeiten eröffnete. Nach Deutschland zurückgekehrt, wo er von Frankfurt aus die Auflösung seines Berliner Haushaltes und die Übersiedlung in die Schweiz vorbereitete, setzte er die Komposition des Klarinettenquartettes fort. Diese Wochen gehörten zu den turbulentesten und dramatischsten in Hindemiths Leben: Parallel zu den vom 22. bis zum 29. Mai in Düsseldorf mit allem Pomp abgehaltenen „Reichsmusiktagen“ wurde die Ausstellung „Entartete Musik“ gezeigt, in der Hindemith als „modernster Theoretiker der Atonalität“ angeprangert wurde. Während sich am 28. Mai als Höhepunkt des Festes die Berliner Philharmoniker in Gegenwart von Hermann Goebbels über Beethovens IX. Symphonie hermachten, hob sich in der Züricher Oper der Vorhang zur Uraufführung von Mathis der Maler, um die Hindemith in Deutschland jahrelang vergeblich gekämpft hatte. Der Abend wurde zu einem Triumph für den Komponisten und scheint den letzten Ausschlag für die Wahl seines Exils gegeben zu haben. Unmittelbar nach der Premiere fuhr Hindemith mit seiner Frau nach Chandolin bei Sierre im Rhônetal. Der dreiwöchige Aufenthalt dort wurde nicht nur zur Vollendung des Klarinettenquartetts genützt, sondern diente auch der Suche nach einem passenden Domizil, das man schließlich in unmittelbarer Nähe von Chandolin in dem Dorf Bluche fand.

„Das Klarinettenquartett macht sich sehr gut. Es ist ein ziemlicher Brocken Musik, klingt schön und dürfte einen guten Eindruck hinterlassen.“

meldet Hindemith seiner Frau Gertrud am 15. April 1939 aus New York, wo die Solisten des Boston Symphony Orchestra mit Hindemiths Lieblingspianisten, dem Puertoricaner Jesús María Sanromá, das Werk eine Woche später aus der Taufe hoben. (Hindemith nahm an den Proben zur Aufführung seiner Werke immer lebhaftesten Anteil; das ist wohl auch einer der Gründe für seine gelegentlich geäußerte Weigerung, Aufführungen, an deren Vorbereitung er nicht mitgewirkt hatte, als „Uraufführung“ gelten zu lassen, weswegen sich für die anderen Werke des heutigen Programms auch keine Uraufführungsdaten ermitteln lassen.)

Hatten wir schon bei der Klarinettensonate die Präsenz der Klarinette für eine unüberhörbare „Klassizität“ des Werkes verantwortlich gemacht, so bestätigt sich dieser Eindruck hier noch einmal. Natürlich sind Maßstab und Inhalt der beiden Werke zu verschieden, um weiterreichende Parallelen ziehen zu können. Vereinfachend ließe sich aber sagen, daß das Klarinettenquartett verglichen mit dem ungebrochenen Klassizismus der Sonate die klassischen Prämissen in ähnlicher Weise abwandelt, wie das für die Musik der romantischen Epoche typisch ist.

Einer der herrlichsten Sätze Hindemiths (Mäßig bewegt, in F) eröffnet das Werk. Im Unterschied zum Kopfsatz der Klarinettensonate gibt es diesmal ein sehr klar kontrastiertes Seitenthema, das in fugierter Form auch die Durchführung beherrscht. Hindemith verzichtet daher auf seine Reprise, wodurch die Ausgewogenheit zwischen beiden Themenkomplexen wieder-hergestellt wird. Als Modulationsschritte dominieren kleine Terzen, ein auch in der Hochromantik sehr beliebtes Organisationsprinzip. Am Ende der Reprise demonstriert der Komponist, daß er auch mit Martinus vertrackten „Uhrwerkfloskeln“ virtuos umzugehen weiß: während Klarinette, Cello und Geige (pianissimo, pizzicato) in ihren Begleitfiguren den Dreivierteltakt festhalten, präsentiert das Klavier ein thematisches Dreizehnachtel-Modell, das sich naturgemäß von Wiederholung zu Wiederholung weiter von der ihm zugedachten Begleitung entfernt. (Im Gegensatz zu den Minimal-Music-Gurus unserer Tage wußte freilich Hindemith ebenso gut wie Martinu, daß ein solches Spiel, wie apart und witzig es auch immer sein mag, nicht abendfüllend ist.)

Die Eckteile des folgenden, in seiner formalen Anlage dem dritten Satz der Klarinette recht genau entsprechenden Stückes (Sehr langsam, in B) werden von einer weitgespannten, nicht enden wollenden Klarinettenkantilene getragen. Zunächst wird diese Kantilene von einem zärtlichen Liniengeflecht der anderen Melodieinstrumente und von feierlichen Glockenklängen des Klaviers gestützt. Doch nach dem bewegteren und rhapsodischen Mittelteil, der von rezitativischer Gestik erfüllt ist, bleibt die Klarinette mit ihrem klagenden Gesang alleine übrig, während sich Streicher (wieder pianissimo, pizzicato) und Klavier in geflüsterten Fragen verlieren. Man darf wohl behaupten, daß Hindemith an keiner anderen Stelle seines Werkes der Stimmung der deutschen Romantik so nahe gekommen ist.

Auch die Komplikationen des letzten Satzes (Mäßig bewegt - Lebhaft - Ruhig bewegt - Sehr lebhaft, in F), der das gestalterisch eigenwilligste Stück des Werkes ist, sind eher als Ausdruck romantischer Sehnsucht nach Ungebundenheit zu verstehen und entspringen jedenfalls nicht experimentellem Kalkül. Der formale und inhaltliche Reichtum dieses Satzes widersetzt sich der handlichen Einordnung in gewohnte Schemata. Wie sich schon in den Tempobezeichnungen ankündigt, handelt es sich eigentlich um die Verknüpfung dreier weitgehend selbständiger Satzglieder mit ausgedehnter Coda. Der dreiteilige erste Abschnitt (Mäßig bewegt) weckt Rondoerwartungen, die den darauffolgenden Saltarello (Lebhaft) zuerst nur als Mittelepisode erscheinen lassen. Bald entpuppt sich dieser Teil jedoch als veritabler, selbständiger Sonatensatz, der freilich in seiner Coda auf das jetzt feierlich vergrößerte und überhöhte Anfangsthema des Satzes zurückgreift. In ähnlicher Weise bezieht sich der nun anschließende langsame Abschnitt (Ruhig) erst in seinem Epilog explizit auf dieses Leit- und Hauptthema, das dann auch die verblüffende Coda (Sehr lebhaft) dominiert. Hier entfesselt Hindemith bei tätiger Mithilfe des Pianisten einen wahrhaft beängstigenden Sturm, der das mutwillig auftrumpfende Hauptthema mitleidlos an einer f-moll-Klippe zerschellen läßt.

© by Claus-Christian Schuster