Texte

von Christian Schuster

Heinrich von Herzogenberg


* 10. Juni 1843
† 09. Oktober 1900

Quartett für Klavier, Violine, Viola und Violoncello Nr.1, e-moll, op.75


Komponiert:    San Remo und Florenz, Ende 1891/Anfang 1892
Widmung:    Elisabeth von Herzogenberg, geb. Stockhausen (1847-1892)
Erstausgabe:    Rieter-Biedermann, Leipzig, 1897

Heinrich von Herzogenberg schrieb sein erstes Klavierquartett am Krankenlager seiner geliebten Frau Elisabeth, die er in letzter und verzweifelter Hoffnung auf Heilung an die Riviera begleitet hatte. Am 29. Dezember 1891 starb Elisabeths Mutter, Clotilde Annette von Stockhausen, in Florenz; schon wenige Tage später, am 7. Jänner 1892, erlag Elisabeth in San Remo ihrem unheilbaren Leiden. Adolf von Hildebrand stellte die Verstorbene, deren beeindruckendes Wesen auch Brahms in seinen Bann geschlagen hatte, auf ihrem Grab in San Remo als Santa Cecilia dar - und ganz ähnlich hat auch ihr Mann sie musikalisch porträtiert.

Am 3. Februar schreibt Heinrich von Herzogenberg an die Brahms-Freunde Theodor und Emma Engelmann in Utrecht:

„....Werden die Hymnen, die mein ganzes Innere erfüllen und durchhallen, jetzt auch noch durch schmerzlichstes Mitleiden getrübt, so werden sie doch die Herrschaft in mir bewahren. Nicht, daß ich ohne Lisl leben muß, sondern daß sie litt und starb, ist der wütende Jammer, der mich noch erfaßt; laßt die gütige Zeit diese Bilder, bei denen mir das Herz blutet, leise in die Ferne rücken, dann sollt Ihr sehen, daß ich nicht Schiffbruch gelitten habe - was wäre denn an einem so grenzenlosen Glück, wie ich es genossen, wenn es nicht abfärbte, wenn es durch Tod und Trauer zu vernichten wäre - ... Doch genug, genug! Ich mißbrauche Eure Freundschaft allzu sehr und halte Monologe. Viel besser, ich schicke Euch ein Quartolog, ein Stück, was ich sonst niemandem zeigen möchte. Ihr seht an den Datums, wann es entstanden; geheimnißt aber nicht zu viel hinein und heraus: das Trio des Scherzos z.B. ist entstanden, als mir die Glieder vor Aufregung und Entsetzen schlotterten: an dem Tage verlor sie auf fünf Stunden das liebe wonnige Augenlicht! Vielleicht versteht Ihr das Finale am ehesten - doch nein, Ihr saht sie ja nicht wie eine Braut unter Rosen lang ausgestreckt liegen, schön jung und lieblich - eine Verlobung für die Ewigkeit!...“

In diesem „Quartolog“ finden sich alle Vorzüge, die die noch immer weithin verkannte Kammermusik Herzogenbergs prägen: Noblesse der Erfindung, Gediegenheit der Ausarbeitung und eine unmittelbar berührende schlichte Innigkeit.


Der erste Satz (Allegro ma non troppo) bezieht seine Energie aus der Dialektik zwischen herbem Ernst und hoffnungsvollem Vertrauen, die sich in den beiden beherrschenden Themenkomplexen ausdrücken. Für die Dramaturgie des Satzes ist entscheidend, daß sich beide Themen aus einem einzigen Grundmotiv (der spiegelbildlichen Gegenüberstellung von steigender und fallender Sekund) herleiten. Die so ermöglichte Stringenz des musikalischen Ablaufes läßt formales Raffinement leicht entbehren - trotz der „Regelmäßigkeit“ der zugrundeliegenden Sonatenhauptsatzform trägt der Satz durchaus nicht das Stigma „akademischer“ Glätte.
Besonders charakteristisch für Herzogenberg ist das folgende Andante quasi Allegretto (H-Dur), ein „Lied ohne Worte“, dessen Reiz in der verschleierten Periodik des Themas liegt: die Fünftakter des Bratschenthemas werden durch die Pizzicato-Repliken der anderen Streicher zu Sechstaktern gedehnt; einen nicht unähnlichen Thementyp hat der Komponist auch in seinem gleichzeitig entstandenen vierhändigen Zyklus „Dainu Balsai - Litauische Volkslieder“ aufgegriffen (op.76 Nr. 3: „Oj, Dieve! / Oh, mein Herrgott!“).
Auf Brahms´ Spuren wandelt der dritte Satz, Vivace (e-moll), auf dessen ausgelassen kapriziöses Trio Herzogenberg in seinem oben zitierten Brief hinweist. Auch hier läßt das Spiel verschiedener Metren über einem gleichbleibenden Puls an dieselben osteuropäischen Volksmusikquellen denken, aus denen auch Brahms gerne geschöpft hat; die pointierte Synkopierung des Triothemas betont diese folkloristische Note noch.
Ganz abseits der dramaturgischen Norm steht aber dann der Finalsatz (Moderato, E-Dur). Wenn man auch aus Herzogenbergs Brief einigen Aufschluß über den gedanklichen Hintergrund dieses Satzes erhält, so muß dennoch vieles an dieser Musik rätselhaft bleiben. Der feierliche Choral, der an die Stelle des erwarteten Schlußsatzes tritt, wird von Episoden völlig anderer musikalischer Provenienz unterbrochen, hinter denen sich wohl für den Außenstehenden nicht zu enträtselnde Chiffren verbergen. Wahrscheinlich sind Herzogenbergs Worte vom „Stück, was ich sonst niemandem zeigen möchte“ auf die Intimität dieser Stellen gemünzt. Doch die Empfindung, aus der diese Musik geboren wurde, ist so echt und unmittelbar, daß sie uns auch über diese Barriere hinweg erreicht. Und wenn Herzogenberg in den letzten Takten des Werkes auf die Kadenzwendung des langsamen Satzes zurückgreift, hat er in der Schlichtheit dieser Geste mehr und Tieferes über sich und die hier musikalisch verewigte Geliebte gesagt, als es Worte je vermöchten.

© by Claus-Christian Schuster