Texte

von Christian Schuster

Joseph Haydn


* 31. März 1732
† 31. Mai 1809

Trio E-Dur Hob.XV:28 (op.75 Nr.2)


Widmung:    Theresa Bartolozzi, geb. Jansen
Uraufführung:    nicht dokumentiert
Erstausgabe:    Longman & Broderip, London, April 1797

Das Mittelstück unserer Trioserie hat innerhalb des Werkganzen unüberhörbar Züge eines lyrischen Mittelsatzes. Die "fragile" Tonart E-Dur, die - wie wir ja auch schon bei Mozarts Trio KV 542 feststellen konnten - dem vollgriffigen Akkordspiel eines C-Dur-Stückes ein zartes Gewebe feinnerviger Linien und Brechungen gegenüberstellt, ist für eine solche Aufgabe wie geschaffen. Die ganz offensichtlich in der Tonart begründete Verwandtschaft dieses Werkes mit der zwanzig Jahre früher geschriebenen Klaviersonate in E-Dur (Hob.XVI:31) wurde schon des öfteren besprochen. Noch interessanter als diese Parallele erscheint der subtile Bezug, den Haydn im ersten Satz (Allegro moderato) zum Eröffnungssatz des vorangegangenen Trios schafft. Diese beiden Sätze verkörpern so ziemlich in jeder Hinsicht diametrale Gegensätze: dort vitaler Zugriff, der sich in der robust-virtuosen Geste des Kopfmotivs manifestiert, hier ein träumerisch-versonnenes Glitzern, für das Haydn im Zusammenklang von zart gebrochenen Klavierakkorden und Streicherpizzicati eine ideale Klanggestalt von großartiger Originalität gefunden hat. Übereinstimmungen zwischen so weit entfernten Polen können kein Zufallsprodukt sein: Wenn Haydn nach dem Ende der Einleitungsphrase der Durchführung, also an völlig analogen Stellen des musikalischen Diskurses, hier wie dort das Satzincipit in As-Dur erscheinen läßt - also in jener Tonart die zu den Toniken der beiden Sätze äquidistant ist -, dann ist nicht mehr zu bezweifeln, daß es ihm auch darum gegangen sein muß, auf diese Weise großräumige Bezüge innerhalb der Werktriade herzustellen, die sich aber eben nur dann nachvollziehen lassen, wenn das ganze Opus als eine Einheit gehört und verstanden wird. Haydn gelingt es gleichzeitig, mit diesem Detail eine Art subtiler Hierarchie zwischen den Werken zu etablieren, die ganz in die Richtung der eingangs postulierten "Mittelsatz-Stellung" unseres E-Dur-Trios weist: Die instrumentale Gestalt der As-Dur-Episode ist der Klangwelt des C-Dur-Trios entnommen (forte und arco statt, wie es der Eigenart des E-Dur-Trios entspräche, piano und pizzicato), die Merkmale des C-Dur-Trios erweisen sich also in dieser Gegenüberstellung gewissermaßen als "dominant".

Das folgende Allegretto (e-moll) gehört zu den faszinierendsten und rätselhaftesten Kammermusikstücken der Klassik. Aber ist es stilistisch überhaupt der Klassik zuzuordnen? Der erste Eindruck ist der einer barocken Passacaglia, doch schon bald merkt man, daß Haydn den für diese Form geltenden Regelkanon souverän außer Kraft gesetzt hat. Nach der Exposition des Basso ostinato erscheint das eigentliche Thema, das mit seinen weiträumigen Intervallen, den prägnanten rhythmischen Formeln und einer von immer neuen Sequenzbildungen weitergetragenen deklamatorischen Melodik eine ganz eigenartige Faszination ausübt. Fünfmal setzt dieses Thema zu Phrasen unterschiedlicher Länge an, und fünfmal bahnt es sich immer neue melismatische Wege durch ein schlichtes harmonisches Terrain, das sich zwischen Molltonika und Durparallele ausbreitet. Erst ganz am Ende wird die ostinate Achtelbewegung, die das Thema auf all diesen Wegen treu begleitet, angehalten, und der Satz mündet in eine kurze und leidenschaftliche Kadenz. Die klangliche Realisierung dieser einzigartigen Invention sind natürlich ganz auf den Hammerflügel berechnet, bei dem die einzelnen Register im Vergleich zu den modernen Klavieren sich weit deutlicher gegeneinander abheben, so daß einerseits die bis zu drei Oktaven weiten Sprünge des Hauptthemas viel stärker zur Geltung kommen, andererseits aber auch zwischen den vom Klavier benützten Klangregionen ein klar konturierter "Leerraum" besteht, in dem sich die Streichinstrumente frei entfalten können.

Man hat in diesem Stück charakteristische Stilmittel von Barock, Klassik und Romantik gleichzeitig in paradigmatischer Form verkörpert gesehen - aber eigentlich ist die erlösende Lehre aus dem Wunder dieses Satzes doch nur, daß alle stilistischen, historischen, formalen und technischen Kategorien nichts weiter als der bescheidene Humus sind, auf dem solche nie gesehenen Gewächse gedeihen.

Das Finale könnte in der Klarheit seiner dreiteiligen Form als eine unproblematische Entspannung nach dem kryptischen Allegretto gelesen werden; in Wahrheit birgt auch dieser Satz eine ungeahnte Fülle von Fragen. Da ist einmal das für Haydn so typische, ungezwungene Spiel mit der Doppeldeutigkeit des Metrums, bei dem unüberhörbare Sechsachtel-Elemente die Herrschaft des eigentlich vorgezeichneten Dreivierteltaktes ständig gefährden. Der ausgedehnte Minoreteil birgt in seiner Mitte dann eine ganz unglaubliche harmonische Rückung, in deren Folge ganz kurz die für das folgende Trio so wichtigen Nebentonarten es-moll und H-Dur (Ces-Dur) gestreift werden. Und wenn man im vorangegangenen Allegretto sphinxhaft die Allmacht der Zeit widerspiegelt finden könnte, so ist man beim Anhören dieses Satzes gewillt, zu glauben, daß diese Allmacht genau dort endet, wo Haydn sie enden lassen will: Die Mühelosigkeit, mit der er Bewegung und Stillstand, Fortschreiten und Innehalten des Zeitflusses regiert, kann in Ermangelung eines treffenderen Wortes nur göttlich genannt werden.

© by Claus-Christian Schuster