Texte

von Christian Schuster

Edvard Grieg


* 15. Juni 1843
† 04. September 1907

Andante con moto, c-moll, BoSE 137 (1878)


Uraufführung:    Kopenhagen, Jänner 1908
Julius Röntgen (1855-1932)
Kristian Sandby (1868-?)
Ernst Hoeberg (1871-1926)
Erstausgabe:    C. F. Peters, Frankfurt/Main, 1978 (Grieg-Gesamtausgabe, Band 9)

Die Jahre zwischen 1874 und 1880 waren vielleicht die schwierigsten und schmerzlichsten in Griegs Leben – aber zugleich auch Jahre der Klärung und des Durchbruchs zu einer neuen Ebene der Ausdrucks- und Gestaltungskraft. Unter den Opera 23 bis 33, die in diesen Jahren entstanden, finden sich gleich mehrere Werke, die für das Verständnis von Griegs Eigenart von ganz zentraler Bedeutung sind – allen voran die noch immer vernachlässigte G-Moll-Klavierballade op.24 (1875/76) und das in der selben Tonart stehende Streichquartett op.27 (1877/78).
Der wenige Monate nach Griegs Tod uraufgeführte und erst hundert Jahre nach seiner Entstehung veröffentlichte Klaviertriosatz, der am Beginn unseres heutigen Programms steht, war mit großer Sicherheit als Teil eines mehrsätzigen Werkes geplant. Daß es sich dabei um ein ebenfalls in G-moll stehendes Trio handeln sollte, ist sehr wahrscheinlich – in Griegs Nachlaß fand sich jedenfalls eine recht große Anzahl von Skizzen, die mit diesem Projekt zusammenhängen könnten, aber fast alle sehr rudimentär und schwer einzuordnen sind.
Als einziges Klavierkammermusikwerk für mehr als zwei Instrumente (ein undatiertes, vielleicht 1892 niedergeschriebenes Klavierquintettfragment, BoSE 162, umfaßt nur wenige Takte) steht dieses Andante con moto in Griegs Gesamtwerk recht isoliert da; seine innige Beziehung zu den Schlüsselwerken dieser entscheidenden Schaffensperiode rechtfertigen aber die Beschäftigung mit diesem Torso durchaus.

Das Jahr 1874 war ein Wendepunkt in Griegs Leben gewesen: Im Jänner hatte sich Henrik Ibsen an den Komponisten gewendet und ihm eine Zusammenarbeit für eine Neuinszenierung von Peer Gynt vorgeschlagen. Die in der Folge entstandene und 1876 uraufgeführte Bühnenmusik ist ein Hauptwerk Griegs – und obwohl sie in ihrer vollständigen Fassung heute nur mehr sehr selten im Theater zu hören ist, enthält sie vieles von dem, was (fast) jedes Kind mit dem Namen Grieg verbindet. Die Komposition des Werkes war dadurch beschleunigt worden, daß Grieg – ebenso wie seinem Freunde Johann Svendsen (1840-1911) – ab dem 1. Juni 1874 ein staatlicher Ehrensold in der Höhe von jährlich 1600 Kronen zuerkannt worden war. Das erlaubte ihm, seine Unterrichts- und Dirigiertätigkeit, die ihn an das ungeliebte Kristiania fesselte, etwas einzuschränken, und eröffnete ihm dadurch die Möglichkeit, längere Perioden auf dem Land zu verbringen. Obwohl Griegs Frau Nina, die vor allem seit dem frühen Tod der einzigen Tochter des Ehepaars (1869) ein ausgeprägtes Bedürfnis nach ablenkender Geselligkeit hatte, gegen diesen Rückzug aus dem städtischen Leben opponierte, löste Grieg in den folgenden Jahren nach und nach alle ihn noch an Kristiania bindenden Verpflichtungen – eine der Wurzeln der sich in jenen Jahren schon anbahnenden Ehekrise, die 1883 zu einer zeitweiligen Trennung der Ehepartner führen sollte. (Zur Art dieser Trennung wäre aber bei dieser Gelegenheit zu bemerken, daß Grieg nicht zu seiner Freundin Leis Schjelderup nach Paris ging, sondern auf einer musikalischen Rundreise durch Europa Max Bruch in Breslau, Franz Liszt in Weimar, Clara Schumann in Frankfurt und Julius Röntgen in Amsterdam besuchte.)
Im Herbst 1875 verlor Grieg kurz hintereinander beide Eltern, ein Schicksalsschlag, der in der berührenden G-moll-Ballade op.24 seine unvergänglichen Spuren hinterlassen hat. Im August des nächsten Jahres konnte der Komponist als Korrespondent der Zeitung Bergenposten an den ersten Bayreuther Festspielen teilnehmen, die ihm einen zwiespältigen, aber überwältigenden Eindruck machten. Im Juni 1877 war es endlich so weit, daß Grieg Kristiania den Rücken kehren konnte: Neben der Staatsrente schien auch der stetig wachsende Erfolg der bei Peters in Leipzig verlegten Werke die materielle Existenz des Ehepaares zu sichern.
Griegs Wahl fiel auf den Hof Børve im Kirchspiel Ullensvang, südöstlich seiner Heimatstadt Bergen. Die pittoreske Lage des Hofes mit Blick auf den Sørfjord, einen Seitenarm des Hardangerfjords, und den Gletscher Folgefonna auf der gegenüberliegenden Seite, machten aus diesem Ort auf den ersten Blick für Grieg ein norwegisches Tusculum – was immer seine Frau auch davon halten mochte. Bald aber zeigte sich, daß die Idylle auch ihre Schattenseiten hatte. Als der Winter nahte, stellte sich heraus, daß die Wohnung nicht ausreichend beheizbar war, so daß man nach einer anderen Bleibe Ausschau halten mußte: In Lofthus, etwa sieben Kilometer meerwärts, wurde man am Hofe des Ehepaares Brita und Hans Utne fündig. Zwischen Hausherren und Mietern bahnte sich rasch eine wirkliche Freundschaft an – einige Jahre später sollte Edvard Grieg sogar Taufpate des Sohnes Sverre werden. (Die Mutter, Brita Utne, hat in der Griegschen Ehekrise übrigens eine – wegen der teilweisen Vernichtung der Korrespondenz und eines aufrechten Veröffentlichungsverbotes – nicht ganz geklärte Rolle gespielt.)
Sicher gab es auch hier einige Wermutstropfen: So hatte Grieg immer wieder mit zudringlichen und neugierigen Zaungästen zu kämpfen, die ihn beim Komponieren in seiner neben dem Hof gelegenen Arbeitshütte, die man respektlos „Kompost“ getauft hatte, belauschen wollten; die Plage war in Griegs Augen so groß, daß er die Hütte schließlich an einen schwerer zugänglichen Ort unmittelbar am Fjordufer versetzen ließ. (Der launige und humoristisch stilisierte Bericht, den der Komponist über diesen Vorgang, an dem sich das ganze Dorf beteiligte, 1886 in der Zeitschrift Norden veröffentlichte, verärgerte die hilfsbereiten Bauern nicht wenig – was sicher nicht die Absicht des Autors gewesen war.) Aber ohne Zweifel hatte Grieg hier einen Lebensraum und Arbeitsrhythmus gefunden, der seinen Bedürfnissen weit besser entsprach als das Leben in der Hauptstadt. Daß die Jahre in Lofthus dennoch alles andere als eine glückliche Schaffensphase für ihn waren, hat mit den schon angedeuteten ehelichen Konflikten, aber in gleichem Maße auch mit künstlerischen Problemen zu tun.
Was Grieg suchte, ist sicher nicht leicht in Worte zu fassen. In einem Brief an seinen dänischen Komponistenkollegen und Freund Gottfred Matthison-Hansen (1832-1909) schreibt er aus Lofthus am 10. September 1878:
„Wenn ich nun ein bißchen von mir berichten darf, so möchte ich sagen, daß ich dieses Bad in Einsamkeit und Natur brauchte, das ich gekriegt habe. Ich brauchte Arbeitsruhe, und die habe ich bekommen, vielleicht mehr, als mir gut tut. Ich habe neulich ein Streichquartett vollendet, welches ich jedoch bisher noch nicht gehört habe. Es ist in g-moll und nicht daruaf berechnet, als Trivialität auf den Markt zu gelangen. Es strebt nach Breite, Flucht, und vor allem Klang für die Instrumente, für die es geschrieben ist. Ich brauchte es als Studie. Jetzt will ich mich an ein anderes Kammermusikstück heranmachen. Ich glaube, das ist der Weg, auf dem ich mich selber wiederfinde.“
Als Grieg das niederschrieb, lag die Vollendung des G-moll-Streichquartetts op.27 etwa ein halbes Jahr zurück; in der Zwischenzeit hatte er in einem (leider teilweise verlorenen) Briefwechsel mit Robert Heckmann, dem Widmungsträger des Werkes, eine ganze Reihe spieltechnischer und instrumentatorischer Fragen gewissenhaft erörtert und viele Korrekturen vorgenommen. Daneben hatte er sich aber schon mit dem anderen Kammermusikstück, von dem er in dem Brief an Gottfred Matthison-Hansen spricht, beschäftigt: Es handelt sich hier um jenes Klaviertrio, dessen einzig ausgeführter langsamer Satz mit dem 18. Juni 1878 datiert ist. Daß Grieg die Arbeit auch an diesem Satz noch lange nicht als abgeschlossen betrachtete, geht aus dem Autograph eindeutig hervor – dort lesen wir auf der ersten Seite: „Zu lang! Zwischensatz verkürzen, nicht wiederholen“. Daneben in Klammern: „oder: Quintett“. Obwohl diese Anmerkungen undatierbar sind, läßt sich aus ihnen schließen, daß die beiden Projekte „Klaviertrio“ und „Klavierquintett“ offenbar in einem Verdrängungswettbewerb miteinander standen – ein Eindruck, den auch etliche der hierher zu beziehenden Skizzen bestärken.

Unser Andante ist, wie sein „Entdecker“ Julius Röntgen in einem Brief an Nina Grieg (10. November 1907) bemerkte, seiner Form nach ein „durchgeführtes Lied“ (ABAB-Coda); Griegs selbstkritische Bemerkungen im Autograph haben wohl vor allem mit dem Umstand zu tun, daß beiden alternierenden Formteilen des Satzes das selbe thematische Material zugrundeliegt. Man darf annehmen, daß Grieg hier, hätte er das Trio beendet, nicht nur gestrafft, sondern auch bereichert hätte. Auch die recht einfache Tonartendisposition (c-moll – Es-Dur – c-moll – C-Dur) wäre wohl in einer fertig ausgearbeiteten Fassung noch verändert und der tonale Horizont erweitert worden. Daß der verwaiste Satz aber seit seiner Veröffentlichung eine so beeindruckende Anzahl von Aufführungen und Aufnahmen erlebt hat, sollte nicht als Indiz für die Rentabilität der „Musikarchäologie“ abgetan werden: Die Wirkung des Stückes beruht, jenseits aller nachweisbaren Mängel und Unsicherheiten, auf seiner ebenso berührenden wie entwaffnenden Aufrichtigkeit.

Wenn Grieg in dem zitierten Brief von „Breite, Flucht, und vor allem Klang für die Instrumente“ als seinen Zielen schreibt, meinte er wohl jenen epischen Zug, jene vorwärtsdrängende Zielstrebigkeit und jene instrumentatorische Effizzienz, die das Streichquartett zu einem Meisterwerk machen; und er mußte die Erfahrung machen, daß zwischen der Beherrschung eines gegebenen Instrumentariums und der Erreichung dieser hochgesteckten Ziele ein unauflösbarer Zusammenhang besteht. Die Verbindung von zwei oder mehr Streichinstrumenten mit Klavier – also der gewählte Werkstoff – stellte sehr präzise Anforderungen an die Art und Verarbeitung des musikalischen Materials – also das „Sujet“ –, und um diesen Anforderungen zu genügen waren langwierige Vorstudien und geduldige Experimente erforderlich.
Warum Grieg diesen deutlich erkannten Weg, den er in seinem Brief als den seinen skizziert, nicht weiter verfolgt hat, läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Einer der Gründe mag sein, daß sein Verlegerfreund, Max Abraham (1831-1900), der Inhaber des Leipziger Verlages C. F. Peters, dem Streichquartett, auf das Grieg so große Hoffnungen setzte, mit unverhohlener Skepsis und Zurückhaltung begegnete – das Werk wurde 1879 schließlich von einem anderen (und weit weniger renommierten) Leipziger Verleger, Ernst Wilhelm Fritzsch (1840-1902), übernommen. Daß Abrahams Reaktion Grieg schwer getroffen hat, steht jedenfalls außer Zweifel; wahrscheinlich ist diese Zurückweisung nicht ohne Folgen für das Schicksal von Griegs letztem großen Versuch auf dem Gebiete der Kammermusik geblieben, dem Streichquartett in F-Dur (BoSE 146), das Grieg von 1891 bis zu seinem Tode immer wieder beschäftigen sollte – und das sein niederländischer Freund Julius Röntgen posthum vervollständigte und herausgab.
Julius Röntgen war es auch, der sich schon wenige Wochen nach Griegs Tod bei der Sichtung des Nachlasses für den liegengelassenen Klaviertriosatz interessierte; in einem Brief an Griegs Witwe vom 28. Oktober 1907 plädierte er für eine baldige Veröffentlichung des Werkes. Warum diese dann doch unterblieb, ist nicht zu klären – ökonomische Erwägungen, editorische Komplikationen oder Zweifel am Wert der Komposition könnten bei dieser Entscheidung eine Rolle gespielt haben. Trotzdem figurierte das Werk an prominenter Stelle bei dem Kopenhagener Gedächtniskonzert, das Julius Röntgen – selbst begeisterter Triopianist und Autor von nicht weniger als zwölf Klaviertrios – im Jänner 1908 zu Ehren des verstorbenen Freundes organisierte.
Der Grieg-Biograph und Doyen der norwegischen Musikwissenschaft Finn Benestad (*1929) unterzog sich bei der Vorbereitung der von ihm geleiteten Grieg-Gesamtausgabe der schwierigen Aufgabe, die von mehreren Korrekturschichten überlagerte Reinschrift zu edieren; dieser 1978 erschienenen Erstausgabe folgte 1992 eine nochmals überarbeitete praktische Ausgabe. 2002 erschien eine völlig revidierte Neuausgabe des Werkes, deren Text auch unserer Interpretation zugrundeliegt.

© by Claus-Christian Schuster