Texte

von Christian Schuster

Ludwig van Beethoven


* 16. Dezember 1770
† 26. März 1827

Grand Quintetto pour le Forte-Piano avec Oboë, Clarinette, Basson et Cor ou Violon, Alto et Violoncelle... Oeuvre 16.


Komponiert:    hauptsächlich Berlin, Mai/Juni 1796
Widmung:    Fürst Joseph zu Schwarzenberg (1769-1833)
Uraufführung:    der Bläserfassung: Wien, Traiteurie Jahn, 6. April 1797
Uraufführung der Streicherfassung nicht dokumentiert
Erstausgabe:    Mollo & Co., Wien, März 1801

Die rein äußere Beziehung dieser Komposition zu Mozart läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Mozart hat zwei Es-Dur-Werke in den hier von Beethoven zur Auswahl gestellten Besetzungen geschrieben, 1784 das Quintett für Klavier und Bläser (KV 452), 1786 sein zweites Klavierquartett (KV 493), und beide Werke stehen ganz am Anfang der jeweiligen Gattungsgeschichte, waren also als Ausgangs- und Referenzpunkte gar nicht zu umgehen. Beethoven, der schon 1785 in Bonn drei Klavierquartette (WoO 36) geschrieben hatte (von denen das erste ebenfalls in Es-Dur steht), hätte schon bei seinem ersten Wienbesuch im April 1787, der ja bekanntlich in einer kurzen Begegnung mit Mozart gipfelte, diese Werke kennenlernen können. Sicher ist aber jedenfalls, daß er zum Zeitpunkt der Komposition des Opus 16 bestens mit ihnen vertraut war; und außer Zweifel steht auch, daß er sich mit dieser Komposition ganz bewußt in Beziehung zu Mozart setzt: Die äußere Analogie zwischen Beethovens op.16 und Mozarts KV 452 – in Tonartenfolge, Anzahl und Form der Sätze – ist in der Tat so groß, daß ihre Feststellung schon ein unvermeidlicher Gemeinplatz geworden ist.
Von dieser Feststellung zur vergleichenden Wertung ist aber nur mehr ein kleiner Schritt, und es bedürfte schon einer nicht alltäglichen Zurückhaltung, sich diese zu versagen. So schrieb etwa schon Otto Jahn in seiner Mozart-Biographie (Leipzig, 1856-1859):
„Bekanntlich hat Beethoven in seinem Quintett (Op.16) mit diesem Mozartschen (Es-dur oeuvr.XIV [i.e. KV 452]) gewetteifert; vielleicht tritt bei keinem seiner Werke in gleicher Weise heraus, daß er sich ein Muster gesetzt hatte, um es nachzubilden; übertroffen hat er es diesmal nicht.“
(Jahn: W. A. Mozart, 1. Auflage, Leipzig 1859, IV/51)

Diese Äußerung reizte noch ein halbes Jahrhundert nach ihrer Veröffentlichung Alfred Kalischer zu ungewöhnlich scharfem Widerspruch:
„Das sind ungereimte Dinge. Beethoven als Geist vom Geiste Haydns, als Geist vom Geiste Mozarts, läßt es oft unbewußt erkennen, daß er vieles von ihnen empfangen hat; Mozart-Anklänge begegnen einem sogar noch in seinen allerletzten Sonaten: allein ein bewußtes Nachbilden ist bei Beethoven ganz ausgeschlossen.“
(Kalischer: Beethoven und Wien, Berlin 1910, S.27)

Und Hermann Abert, der einige Jahre danach die Jahnsche Biographie in gründlich überarbeiteter und wesentlich erweiterter Form erscheinen ließ, ersetzte denn auch den inkriminierten Passus durch folgende salomonische Feststellung:
„Vergleichende Werturteile sind indessen wieder einmal müßig, denn beide Werke spiegeln die Eigentümlichkeiten ihrer Schöpfer getreu wieder und stehen künstlerisch durchaus auf derselben Stufe.“
(Jahn-Abert: W. A. Mozart, 6. Auflage, Leipzig 1919-1924, II/189)

Daß weise Einsichten dieser Art nicht geeignet sind, einem zünftigen Reminiszenzenjäger die Freude an seiner Lieblingsbeschäftigung zu verderben, ist bekannt: In den Mozart-Anklängen des zweiten Satzes (Zauberflöte, Don Giovanni) wollte man nach Jahns Zeugnis sogar eine explizite Huldigung an Mozart sehen, und die Nähe des Rondothemas zum analogen Thema aus Mozarts Es-Dur-Klavierkonzert KV 482 hätte, frei nach Brahms, auch nur einem Esel verborgen bleiben können.

Sogar in der Doppelgestalt des Werkes (als Quintett und Quartett) läßt sich eine Parallele zu Mozart erkennen: Dessen Quintett war, freilich ganz ohne Zutun des Komponisten, schon bald in (mehreren, unterschiedlich schlechten) Klavierquartett-Fassungen erschienen. Beethoven, aus dessen brieflichen Äußerungen wir wissen, wie geschärft seine Einsicht in die Problematik solcher populärer „Arrangements“ war, wollte wohl anmaßendem Dilettantismus zuvorkommen und ließ seine eigene Alternativfassung gleichzeitig mit dem Original erscheinen. Die Hierarchie der beiden Versionen steht allerdings außer Streit: Die Erstausgabe verzichtet sogar auf die Anpassung des Titels – erst beim Nachdruck von 1802 trägt die Streicherfassung die korrekte Bezeichnung „Quartetto“. Ohne Zweifel hat aber diese authentische Quartettbearbeitung ganz wesentlich zur Verbreitung des Werkes beigetragen.

Wie neuere Forschungen (Douglas Johnson, 1980) ergeben haben, dürfte das Werk zum Großteil auf der einzigen großen Konzertreise Beethovens, die ihn zwischen Februar und Juli 1796 nach Prag, Dresden, Leipzig und Berlin führte, entstanden sein. Teile des ersten Satzes wurden aber wohl schon früher (wahrscheinlich 1794) konzipiert, und sicher wurde das ganze Opus, wie fast alle Kompositionen des Meisters, vor der Uraufführung (1797) und der Drucklegung (1801) tiefgreifend revidiert – nähere Anhaltspunkte dazu fehlen freilich, da das Autograph verschollen ist.
Auch die erwähnte Reise selbst ist geeignet, die Erinnerung an Mozart zu beschwören: Denn Beethovens Reisebegeleiter war allem Anschein nach eben jener Fürst Carl von Lichnowsky (1756-1814), der Mozart sieben Jahre zuvor auf dessen Berlinreise begleitet hatte (und dessen besondere Nähe zu Beethoven durch die Widmung der Trios op.1, der Klaviersonaten op.13 und op.26 sowie der II. Symphonie eindrucksvoll dokumentiert ist); Beethoven war schon wenige Monate davor, im Spätherbst 1795, auf Schloß Graetz Gast des Fürsten gewesen, und die Beziehungen zwischen dem jungen Komponisten und seinem großzügigen Mäzen waren in dieser Zeit offensichtlich besonders eng.
Wie vor ihm Mozart knüpfte Beethoven an diese Berlinreise große Hoffnungen – die Regierung des musikliebenden Preußenkönigs Friedrich Wilhelm II. (1786-1797), der zwar weder das politische Genie noch das kompositorische Talent seines Onkels geerbt hatte, aber von sicherem Geschmack und Urteil, vor allem aber von lebhaftestem Interesse in musikalischen Fragen war, schien Perspektiven zu eröffnen, die sich unter dem biederen Kaiser Franz nicht boten. Allem Anschein nach hat Friedrich Wilhelm II. Beethoven, der dem Amateurcellisten die eigens für diesen Anlaß komponierten Sonaten op.5 zueignete, auch tatsächlich eine Stellung angeboten. Warum sich Beethoven, wie auch bei allen späteren Gelegenheiten, nicht dazu durchringen mochte, Wien zu verlassen, kann man nur vermuten: Die dürftigen und trockenen Dokumente, die Beethovens zweimonatigen Berlinaufenthalt widerspiegeln, könnten aber immerhin ein Indiz dafür sein, daß das musikalische Umfeld nicht annähernd so anregend und aufnahmefähig wie das Wiener war. Außerdem durfte Beethoven damals glauben, am Beginn einer Virtuosenlaufbahn zu stehen, die ihm noch viele Möglichkeiten dieser Art eröffnen würde. Doch unmittelbar nach der Rückkehr aus Berlin erkrankte Beethoven schwer – und einiges spricht dafür, daß diese Krankheit der Ausgangspunkt für das sein ganzes weiteres Leben überschattende Gehörleiden gewesen sein könnte.

Daß Beethoven sein Opus 16 als Klaviervirtuose für den eigenen Gebrauch, gewissermaßen als „Kammerkonzert“, konzipiert hat, ist dieser Partitur auf jeder Seite anzusehen. Hierin legt auch ein ganz offensichtlicher und relevanter Unterschied zum Mozartschen Quintett: Während dort ein engmaschiges spielerisches Geflecht die Instrumente in ein ständiges Wechselspiel verstrickt, finden wir bei Beethoven über weite Strecken die konsequente Gegenüberstellung von Concertino und Ripieno, von konzertierendem Soloinstrument und Begleitstimmen. Daß trotz dieser grundlegenden Disposition die kammermusikalische Dimension des Werkes nicht zu kurz kommt, ist eine besondere Meisterleistung.

Zwei mit der Aufführungsgeschichte des Werkes verknüpfte Anekdoten zeigen übrigens beispielhaft sowohl den Antagonismus zwischen „konzertantem“ und „kammermusikalischen“ Denken als auch den Wandel in Beethovens Einstellung zur Interpretationspraxis – ein Wandel, dessen Konsequenzen in der oft kategorisch und dogmatisch geführten Diskussion zwischen den Verfechtern kompromißloser Notentreue und den Bewunderern improvisatorischer Kreativität gerne übersehen werden.

Die erste dieser Anekdoten wird uns von Beethovens Schüler Ferdinand Ries (1784-1838) überliefert und bezieht sich auf ein Konzert vom Dezember 1804. Die Verläßlichkeit und Genauigkeit dieser Quelle wurde zwar von verschiedener Seite in Zweifel gezogen; diese Zweifel beziehen sich aber nur auf untergeordnete Details – die Glaubwürdigkeit des geschilderten Vorfalls an sich wird durch sie nicht angetastet.

Ferdinand Ries berichtet:
„Am nämlichen Abend spielte Beethoven sein Clavier-Quintett mit Blasinstrumenten; der berühmte Oboist Ram [i.e. Friedrich Ramm (1744-1811)] von München spielte auch und begleitete Beethoven im Quintett. – Im letzten Allegro ist einigemal ein Halt, ehe das Thema wieder anfängt; bei einem derselben fing Beethoven auf einmal an zu phantasieren, nahm das Rondo als Thema und unterhielt sich und die andern eine geraume Zeit, was jedoch bei den Begleitenden nicht der Fall war. Diese waren ungehalten und Herr Ram sogar sehr aufgebracht. Wirklich sah es posirlich aus, wenn diese Herren, die jeden Augenblick warteten, daß wieder angefangen werde, die Instrumente unauffällig an den Mund setzten, und dann ganz ruhig wieder abnahmen. Endlich war Beethoven befriedigt und fiel wieder in´s Rondo ein. Die ganze Gesellschaft war entzückt.“

Während wir hier also Beethoven als einen Verfechter interpretatorischer Freiheit, ja solistischer Willkür in extremis erleben, so zeigt ihn uns eine nur zwölf Jahre später spielende Begebenheit schon als Anhänger einer „moderneren“, unseren Spiel- und Hörgewohnheiten viel näheren Auffassung.

Nach der Auflösung des Razumovskij-Quartetts beschlossen Ignaz Schuppanzigh und Joseph Linke, Wien zu verlassen. Beide gaben im Abstand einer Woche Abschiedskonzerte. Dasjenige von Schuppanzigh fand am 11. Februar 1816 im Palais Deym (1889 demoliert, Rotenturmstraße/Schwedenplatz) statt. Beethovens Schüler Carl Czerny wirkte, wenige Tage vor seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag, bei dieser Gelegenheit als Pianist mit. Viele Jahre später erinnerte er sich an dieses Konzert:

„Als ich in Schuppanzigh´s Musik das Quintett mit Blasinstrumenten vortrug, erlaubte ich mir im jugendlichen Leichtsinn manche Aenderungen – Erschwerung der Passagen, Benützung der höheren Octave u.s.w. – Beethoven warf es mir mit Recht in Gegenwart des Schuppanzigh, Linke und der andern Begleitenden mit Strenge vor. Den andern Tag erhielt ich von ihm folgenden Brief, den ich hier genau nach dem mir vorliegenden Original abschreibe:

lieber Z Heute kann ich sie nicht sehn, morgen werde ich selbst zu ihnen kommen, um mit ihnen zu sprechen – ich plazte gestern so heraus, Es war mir sehr leid, als es geschehen war, allein dies müßen sie einem autor verzeihen, der sein werk lieber gehört hätte gerade, wie er´s geschrieben, so schön sie auch übrigens gespielt. –
ich werde das aber schon bey der violonschell Sonate laut wieder gut machen, seyn sie überzeugt, daß ich als Künstler das gröste wohlwollen für sie hege, u. mich bemühen werde, ihnen immer zu bezeigen. –
ihr wahrer Freund Beethowen.“

Schuppanzigh, dessen Bekanntschaft Beethoven im Jahr der Komposition des Opus 16 gemacht hatte, war auch für das Zustandekommen der Uraufführung des Werkes verantwortlich, die am 6. April 1797 im ersten Stock der Traiteurie Jahn (Himmelpfortgasse 6/Gedenktafel) stattfand. Ob er zusammen mit seinen Quartettkollegen auch die Streicherfassung aus der Taufe gehoben hat, ist nicht überliefert, darf aber als wahrscheinlich gelten.

© by Claus-Christian Schuster